Was Robert Enke mich gelehrt hat und wieso wir alle noch viel zu lernen haben.

Genau heute vor einem Jahr wollte ich bloggen, am 10.11.2014. An Robert Enkes Todestag.
Damals hab ich es versäumt. Weil ich mich nicht aufraffen konnte, weil mir Kraft und Mut fehlten und weil ich nicht bereit war, das Thema psychischer Erkrankungen in der Form anzusprechen und – mehr oder weniger – öffentlich zu thematisieren, wie es meiner Meinung nach angebracht wäre und wie ich es mir gewünscht hätte.

Seit dem 10.11.2014 ist viel passiert. Generell wie auch bei mir persönlich.
Heute , genau ein Jahr später, habe ich mein damaliges Vorhaben in die Tat umgesetzt.
Zuerst via Twitter und nun, aus Gründen der Leserlichkeit und der Bedeutung der Thematik, nochmal gebündelt hier.

Wer möchte, kann mir gerne Anregungen, Hinweise und/oder eigene Erfahrungen zukommen lassen. Entweder hier im Blog oder via Twitter als Mention oder DM an @Estadox.

Nun zum eigentlichen Thema:

Was Robert Enkes Suizid bei mir ausgelöst hat, warum ich heute noch darüber nachdenke und wieso wir alle meiner Meinung nach noch viel zu lernen haben. 

Robert Enkes Suizid hat bei mir damals zu einem Umdenken geführt. In Bezug auf andere, vor allem aber in Bezug auf mich selbst.
Ich habe mir damals vorgenommen, mehr zu hinterfragen und zu reflektieren. Meine eigenen Handlungen und die Handlungen anderer.
Ich habe angefangen, mich intensiver mit den Beweggründen von Menschen zu beschäftigen und mir mehr Gedanken über das Resultat jeweiliger Verhaltensweisen zu machen.
Ich würde behaupten, dass Robert Enkes Suizid maßgeblich dazu beitragen hat, dass ich drei Jahre später angefangen habe, Psychologie zu studieren. Enkes Suizid hat psychische Erkrankungen für mich greifbarer gemacht und mir vor Augen geführt, dass sie schwerwiegend sind, dass man sie ernst nehmen muss und dass es grob fahrlässig ist, sie zu tabuisieren und zu stigmatisieren.
Das war vor sechs Jahren. 

Heute noch gewinnt man den Eindruck, mit psychischen Erkrankungen nicht an die Öffentlichkeit gehen zu können, weil sie als Zeichen von Schwäche gelten.
Physischer Verfall wird akzeptiert. Ein gebrochenes Bein, eine Grippe, eine offene Wunde – niemand würde in Frage stellen, deshalb zum Arzt zu gehen.
Aber beispielsweise Depressionen, die heute noch vorwiegend und fälschlicherweise mit Trauer assoziiert werden? Nicht normal, nicht üblich – und das sind „nur“ Depressionen. Die sind von ihren Auswirkungen eigentlich noch vergleichsweise greifbar.
Autismus? Schizophrenie? Borderline?

Wir haben das Jahr 2015 und Menschen mit psychischen Erkrankungen sehen sich immer noch wahnsinnig vielen Hürden ausgesetzt.
Nicht nur, dass sie ihre krankheitsbedingten Probleme bewältigen müssen, sondern sie sind auch noch eine gesellschaftlich nur bedingt registrierte und akzeptierte Randgruppe und haben einen deutlich erschwerten Zugang zu ärztlicher bzw. therapeutischer Hilfe als „normal“ Erkrankte.
Es gibt einen krassen Mangel an psychotherapeutischen Praxen. Wartelisten sind wahnsinnig lang, jeweilige Therapeut*innen überlastet und der Ausbildungsweg ist gepflastert von Hürden, die es Leuten, die willens sind, eine helfende Funktion einzunehmen, unnötig schwer machen:
Drei Jahre Bachelor bei einem Mindest-NC von ~1,6, dann eine weitere, sehr anspruchsvolle NC-Hürde zum Master (auch hier, je nach Standort,1,X), dann die – oft unbezahlte – Ausbildung zum Therapeuten bzw. zur Therapeutin. Zusätzlich dazu besteht die Notwendigkeit eines Kassensitzes, falls man kassenärztlich und nicht privat therapieren will. Diese Kassensitze wiederum sind einerseits (künstlich) verknappt und andererseits wahnsinnig teuer – die Kosten gehen hier in die Zehntausende.
Dieser finanzielle Aufwand wiegt insofern besonders schwer, als dass man nach etlichen Jahren zeit- und kostenintensiver Ausbildung mit geringen Einnahmemöglichkeiten ohnehin schon leicht in finanzielle Verlegenheit kommt und Verbindlichkeiten anhäuft. In diesen Kosten – also Ausbildung und Kauf eines Kassensitzes – sind die benötigten Therapiematerialen übrigens noch nicht beinhaltet.
Das heißt, dass jemand, der Therapeut oder Therapeutin werden möchte, sich nicht nur mit einer langwierigen und als anspruchsvoll geltenden Ausbildung auseinandersetzen muss, sondern gleichzeitig mit einem immensen finanziellen Aufwand konfrontiert wird.
Nun kann man zwar davon ausgehen, dass Menschen, die unbedingt helfen wollen, bereit sind, diese Hürden auf sich zu nehmen – man erschwert es ihnen jedoch deutlich und sortiert jene aus, die finanziell schlichtweg nicht in der Lage sind, diesen Weg zu gehen. Das ist meiner Meinung nach in vielerlei Hinsicht traurig.

Spielen wir das Szenario eines Erkrankten nun also mal durch:
Man ist krank, leidet beispielsweise an Depressionen und benötigt Hilfe. Wir gehen hierbei von dem Punkt aus, an dem die Belastung so groß geworden ist, dass man selbst mit dieser Belastung überfordert ist und Hilfe benötigt. Man geht also zum Hausarzt bzw. zur Hausärztin und bittet um Hilfe. Die wiederum können einem nur Medikamente verschreiben und empfehlen, sich in therapeutische Obhut zu begeben. Man sucht entsprechend nach Möglichkeiten, durchsucht das Internet, das Telefonbuch, schreibt sich ein paar Adressen raus und ruft an:

„Sprechstunde nur montags von 10 bis 11 Uhr.“ – Mist, da hab ich keine Zeit.
„Momentan im Urlaub.“
„Leider voll, erst in drei Monaten.“

Dann, nach ein paar Wochen bis Monaten ohne professionelle Hilfe – wohlgemerkt ab dem Punkt, an dem man Hilfe in Anspruch nehmen wollte, weil man es nicht mehr ohne Hilfe ging -, wahrscheinlich auf sich allein gestellt, eventuell „wenigstens“ mit Medikamenten, hat man ein therapeutisches Erstgespräch und stellt fest: Verdammt, weder die angebotene Therapiemethode noch die Chemie zum Therapeuten bzw. zur Therapeutin passt. Scheiße.

Was nun? Gleiches Spiel nochmal.

Das ist Wahnsinn, das ist grob fahrlässig und das ist nicht zeitgemäß.

Fazit: Psychische Erkrankungen müssen ernst genommen werden und es muss endlich ein Umdenken in allen Schichten stattfinden, um alle Beteiligten zu entlasten und professionelle, angemessene Hilfe zu gewährleisten. Sowohl für die Erkrankten, als auch für die Helfenden und für die Angehörigen.

Wichtig ist auch, dass man nicht einfach nur „genau hingucken“ muss. Das ist meiner Meinung nach Quatsch, denn das funktioniert nicht. Wer nicht bemerkt werden will, der wird nicht bemerkt. Man muss nicht genau hingucken, man muss Hilfsbereitschaft, Vertrauen und Akzeptanz ausstrahlen. Man muss das Gefühl vermitteln, für potentiell Betroffene da zu sein. Man muss ihnen Sicherheit spenden und ihnen Stabilität geben.
Es reicht nicht, „genau hinzugucken“, es reicht nicht, zu sagen, dass man ja im Zweifelsfall da sei. Man muss auch wirklich da sein. Man muss aktiv dazu beitragen, ein Umfeld der Akzeptanz zu schaffen. Man muss aktiv Hilfeleistung geben. Indem man Interesse zeigt und bekundet, indem man zuhört, indem man tröstet und unter die Arme greift.

3 Gedanken zu “Was Robert Enke mich gelehrt hat und wieso wir alle noch viel zu lernen haben.

  1. Ich habe Robert Enke als Hörbuch und war sehr bestürzt als er den Freitod gewählt hat. Danke für deinen Beitrag.

Hinterlasse einen Kommentar